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Interview

Tipps zum Umgang mit belasteten Kindern – Angst und Aufmerksamkeit

Pädagogische Fach- und Lehrkräfte sind selten traumatherapeutisch ausgebildet, stehen aber bei der Arbeit mit Kindern oft vor genau solchen Herausforderungen. Gemeinsam mit der Psychotherapeutin Anisa Saed-Yonan haben wir einige typische Situationen zusammengestellt, denen Pädagoginnen und Pädagogen im Alltag begegnen können. Der zweite Teil unserer Vorschläge zur "Ersthilfe".

Anisa Saed-Yonan im Interview
© privat
Im Interview mit der Psychologin und Psychotherapeutin Anisa Saed-Yonan.

Anisa Saed-Yonan berät in der Beratungsstelle des SOS-Kinderdorfs in Berlin Familien mit Migrationshintergrund, die meisten von ihnen haben Fluchterfahrung. Die Psychologin und Psychotherapeutin ist vor drei Jahrzehnten selbst aus Syrien nach Deutschland gekommen. Die folgenden Handlungsempfehlungen sind Beispiele aus ihrer praktischen Arbeit, die sich bewährt haben.

"Das Kind nässt ein, obwohl es eigentlich schon allein auf die Toilette gehen kann."

Anisa Saed-Yonan: "Oft merken die Mädchen und Jungen es erst, wenn ihre Kleidung schon durchgenässt ist. Und das, obwohl sie schon jahrelang trocken sind. Auch diese Situation ist für Kita-Erzieherinnen und –Erzieher vermutlich nicht ganz neu, für Fachkräfte an Schulen schon eher. Selbstverständlich darf ich die Situation nicht vor den anderen Kindern thematisieren. Ich muss eine Vertrauensbeziehung aufbauen und versuchen, das Kind zu unterstützen, indem ich es z.B. auf die Toilette begleite. Im Dialog mit Mutter und/oder Vater komme ich dann vielleicht den Ursachen auf die Spur. Das Einnässen kann konkrete Auslöser haben, muss es aber nicht. Solche Auslöser sind oft Ängste."

"Das Kind hat eindeutig Angst vor bestimmten Dingen oder Situationen."

A. S.-Y.: "Vor Kurzem haben mir syrische Eltern von ihrer Tochter im Grundschulalter berichtet, die geöffnete Fenstern nicht ertragen kann. Sie fängt dann an zu zittern. Das Mädchen hatte bei einem Angriff erlebt, wie Splitter durch das Fenster schossen. Andere Kinder halten sich die Ohren zu und isolieren sich, wenn es zu laut im Raum wird. Es gibt typische und weniger typische Auslöser für solche Ängste. Oft ist unsere erste Reaktion darauf ganz praktischer Natur: Die Mutter des Mädchens hat sich angewöhnt, nur zu lüften, wenn das Mädchen nicht in der Nähe ist. Das ist natürlich nicht immer möglich, im Hochsommer kann ich die Fenster mit 10-30 Kindern im Raum nicht ständig geschlossen halten. Auch viele andere Angstquellen kann ich nicht einfach entfernen oder abschalten. Außerdem möchten wir dem Kind ja helfen, seine Ängste zu besiegen.

Wichtig ist, dass das nur im Dialog mit Eltern und ggf. auch mit Psychologen oder Traumatologen geht. Die pädagogische Fachkraft sollte nicht ohne Absprache auf Konfrontation setzten. Das Fenster auf Kipp zu stellen, kann ein erster Schritt zur Überwindung sein, muss es aber nicht. Als sich die Eltern des Mädchens mit der Lehrerin unterhalten haben, erfuhren sie, dass ihre Tochter in der Schule kein Problem mit offenen Fenstern hat, die Angst kommt nur Zuhause. Solche Details sind wichtig, um Ursachen zu ergründen und dem Kind zu helfen, kommen aber nur im Gespräch heraus."

"Das Kind kann sich nicht konzentrieren."

A. S.-Y.: "Das ist vermutlich eine der häufigsten Beobachtungen pädagogischer Fachkräfte, unabhängig davon, ob die Kinder Fluchterfahrungen machen mussten oder nicht. Man kann die Ursachen und Lösungen dafür nicht verallgemeinern. Es kann ADHS sein oder zu wenig Bewegung, vielleicht ist es auch nur eine Momentaufnahme. Wenn ich das Gefühl habe, dass es mit der Erziehung zusammenhängt, hilft es, mir vor Augen zu halten, dass man bei Geflüchteten nicht ganz so einfach von schlechter Erziehung sprechen sollte. Viele hatten schlicht keine Zeit und Gelegenheit ihre Kinder so zu erziehen wie sie sich das vielleicht vorgenommen hätten, weil sie mit dem Überleben ihrer Familie beschäftigt waren. Einer Flucht gehen oft Jahre der Verfolgung, des Umherziehens, der Obdachlosigkeit o.ä. voraus – das kann ein ganzes Kinderleben füllen. Das ändert natürlich nichts daran, dass den Kindern geholfen werden muss und Probleme beim Namen genannt werden sollen. Diese Einsicht kann es mir aber leichter machen auf Augenhöhe mit den Eltern nach Erklärungen und Lösungen zu suchen.

Ein Beispiel sind Kinder, die nachts nicht schlafen können, weil sie Träume plagen, sie schreiend aufwachen oder weil sich gar nicht erst trauen einzuschlafen. Das kann ich nur von den Eltern erfahren und dann entsprechend reagieren, indem ich dem Kind Ruhephasen gönne und darauf achte, was es beruhigt oder müde macht, welche Rituale dabei helfen könnten. Ich habe von einem Kind erfahren, dass nur beim Vorlesen in der Kita regelmäßig müde wurde. Die Erzieherin konnte das erfreut an die Eltern melden. Denen war das Vorlesen eigentlich fremd, sie nahmen die Idee aber dankbar auf. Übrigens noch eine Beobachtung die ich oft in der Praxis mache: Viele Menschen aus diesen Kulturkreisen respektieren Pädagoginnen und Pädagogen sehr als Experten, die wissen, wovon sie sprechen."

Hier geht es zum ersten Teil vom Interview: Tipps zum Umgang mit belasteten Kindern – Aggression und Einsamkeit

INFO:

Hier geht es zur psychologischen Beratung des SOS-Kinderdorfs in Berlin für Flüchtlinge, Kinder, Jugendliche, Eltern und ganze Familien.

Mehr Details zur Arbeit mit traumatisierten Kindern, vor allem in der Kita, liefert die Seite des "Niedersächsischen Instituts für frühkindliche Bildung und Entwicklung e.V.".