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Interview

Ukrainische Familien verstehen: So erleichtern Sie die Ankunft in der Kita

Welche Erwartungen haben ukrainische Eltern an die Kita ihrer Kinder in Deutschland? Welche Ängste und Sorgen haben Familien, die aus der Ukraine nach Deutschland kommen? Was können pädagogische Fachkräfte tun, um den Kindern das Ankommen zu erleichtern? Antworten auf diese Fragen gibt es im Interview mit der Leiterin vom Forum Frühkindliche Bildung Baden-Württemberg, Professorin Nataliya Soultanian.

Kind mit Globus in den Farben der ukrainischen Flagge
© Liderina/iStock.com

Wie unterscheidet sich das ukrainische Kita-System zu dem deutschen?

Von der Struktur und Aufbau unterscheiden sich die beiden Systeme kaum. Es gibt Unterschiede in den Schwerpunkten und Ansätzen bei der Gestaltung der pädagogischen Arbeit mit Kindern. In der Ukraine sind die kulturellen Traditionen stärker im Kita-Alltag verankert. Dort stehen Lieder, Gedichte und Feste - im religiösen wie auch im kulturellen Kontext - unbedingt auf dem Programm. Seitens der ukrainischen Eltern besteht grundsätzlich ein großes Interesse an der institutionellen Betreuung und somit ist die Besucherquote sehr hoch. Im Jahr 2019 haben fast 97 Prozent der Kinder im Alter von fünf bis sieben Jahren eine Kindertageseinrichtung in der Ukraine besucht. Die ukrainische Gesellschaft ist eine sehr dynamische. Die meisten Frauen sind berufstätig und gehen recht früh wieder arbeiten. Tendenziell kommen die Kinder dennoch später in eine Einrichtung als in Deutschland, wenn die Sorgearbeit innerhalb des Familienverbundes übernommen werden kann. Die Kinder gehen in der Regel im Alter von zwei bis drei Jahren in die Kindertagesstätten.

Waren deshalb die Anmeldungen in Deutschland eher verhalten?

Ich kann dazu lediglich Tendenzen nennen, da es keine konkreten Zahlen gibt. Prognostisch gesehen wird der Bedarf im Kindergartenbereich eher steigen. Wenn die Familien dauerhafter hierbleiben, dann sind sie auch verpflichtet, einen Integrationskurs zu besuchen und benötigen zumindest eine Betreuung am Vormittag.

Wie kann man ukrainische Kinder in der Eingewöhnungsphase unterstützen?

Die Eltern sind bei ihrer Ankunft in Deutschland ziemlich überlastet. Sie kennen das ganze System der frühkindlichen Betreuung nicht. Das muss kennengelernt, entdeckt und erklärt werden. Sie sind sehr daran interessiert, dass ihre Kinder eine Einrichtung besuchen und dankbar, wenn sie einen Platz bekommen. Zum Ankommen gehört auch soziale Integration, und diese ist den ukrainischen Familien sehr wichtig. In ukrainischen Kitas steht der Beziehungsaufbau zum Kind und somit das Erkennen der Persönlichkeit jedes Kindes im Mittelpunkt.

Ich glaube, alle benötigen mehr Zeit, um anzukommen und Erfahrungen zu sammeln. Sowohl die Eltern als auch die pädagogischen Fachkräfte sollen sich fragen: Wie geht es mir dabei? Wo brauche ich Unterstützung? Was muss noch geklärt werden?

Welche Ängste und Sorgen haben die Eltern aus der Ukraine in Bezug auf die Eingewöhnung der Kita-Kinder?

Das emotionale Ankommen ist wichtig, dass sich das Kind wohlfühlt und gerne in die Einrichtung geht. Die ukrainische Gesellschaft ist eine kollektivistische, wo man traditionell gesehen eher in Gruppen agiert. Daher wollen die Eltern, dass ihre Kinder schnell Kontakte knüpfen, in der Gruppe gut angekommen und die ersten Freundschaften schließen. Zu den großen Sorgen gehört vor allem die Sprache. Der schnelle Spracherwerb ist Priorität für die Eltern selbst wie auch für ihre Kinder. Sie fühlen sich abgeschnitten von der Gesellschaft, wenn sie die Sprache nicht können.

Ich sehe im Spracherwerb der Kinder nicht die große Herausforderung. Wichtig ist, dass die Kinder einen regelmäßigen Zugang zur Sprachumgebung haben und die Möglichkeit, zu sprechen. Aus linguistischer Perspektive werden in einem guten Jahr die Grundstrukturen einer Sprache erworben, so dass die Kinder im Alltag gut kommunizieren können.

Was können die pädagogischen Fachkräfte tun, um den Familien das Ankommen zu erleichtern?

Zuerst müssen sich die Familien aufgenommen fühlen. Das ist bei jedem Ankommen wesentlich, aber in einer Fluchtsituation noch wichtiger. Die Kommunikation mit den Eltern ist der Garant zum Erfolg. In der Ukraine wird auf eine etwas andere informellere Art kommuniziert. Dort findet vieles in direkter Kommunikation mit den Fachkräften statt. Man kann sie persönlich anrufen oder texten. Hier werden die Eltern mit einer gänzlich anderen Kommunikationskultur konfrontiert. Das kann zu Missverständnissen führen. Ein dauerhafter und transparenter Dialog ist daher sehr wichtig. Dieser wird dadurch erschwert, dass viele kein Deutsch sprechen. Da helfen einfache Hilfsmittel wie bereits übersetzte kurze Texte. Viele Infomaterialien für ukrainische Familien wurden bereits ins Ukrainische übersetzt. Diese werden gelesen und ernst genommen.

Zu welchen weiteren Missverständnissen kann es im Kita-Alltag kommen?

Die ukrainischen Eltern legen viel Wert auf den strukturierten Tagesablauf, auf die Schlafbedingungen, Essensversorgung und angeleitete und begleitete Aktivitäten für die Kinder. Für viele ist es neu, dass hier nicht in allen Einrichtungen jedes Kind ein eigenes Bett oder einen festen Bettplatz hat. Der Schlaf ihrer Kinder hat Priorität, und sie können nicht nachvollziehen, warum hier die Kinder geweckt werden. Es wird auch beispielsweise erwartet, dass das Spiel der Kinder beim Abholen nicht unterbrochen wird. Die Gestaltung der Übergänge ist einfach anders. Ebenso gibt es bezüglich der Kleidung viele Missverständnisse. In Deutschland wird viel mehr als in der Ukraine den Kindern die Kleiderwahl selbst überlassen. Deswegen ist es wesentlich, dass die Eltern in die Eingewöhnungsphase mitgenommen, informiert und begleitet werden. Ausführliche Information ist maßgeblich. Es ist sehr wichtig, dass die Eltern den Auftrag einer Kita verstehen. Der ukrainische Kindergarten bereitet die Kinder ausführlicher auf die Schule vor. Doch die Kinder in deutschen Kindertagesstätten werden dort nicht mit Kulturtechniken wie Lesen oder Schreiben gezielt auf die Schule vorbereitet. Die Vorbereitung ist eher sozialer, emotionaler und psychologischer Art. Die deutsche Kita legt sehr viel Wert auf die Selbstbildung der Kinder, die Rolle des Spiels und die Erziehung zur Selbstständigkeit. Je besser die Ziele und deren positive Effekte verstanden werden, umso mehr sind die Eltern beruhigt. Verstehen heißt auch Akzeptieren und Mitgestalten.

Vielen Dank für das Gespräch!

Zur Person

Professorin Nataliya Soultanian ist Leiterin vom Forum Frühkindliche Bildung Baden-Württemberg
© privat

Prof. Dr. Nataliya Soultanian ist Leiterin des Forums Frühkindliche Bildung Baden-Württemberg (FFB). Sie war als Professorin der Kindheitspädagogik an der SRH Hochschule in Heidelberg tätig und leitete den gleichnamigen Studiengang. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die kindliche Mehrsprachigkeit, Sprachbildung und Sprachförderung, Gestaltung der Erzieherin-Kind-Interaktion in bilingualen Kontexten und Spracherziehungspraktiken in bilingualen Familien.

INFO

Das Forum Frühkindliche Bildung Baden-Württemberg bietet die kostenfreie Vortragsreihe ForumAmPuls an. Hier werden aktuelle Themen aus und für den frühkindlichen Bereich ins Gespräch gebracht. Die Veranstaltungen finden immer am letzten Donnerstag im Monat, von 16:00 bis 17:00 Uhr online statt. Zusätzlich werden die Präsentationen der Vortragenden online zur Verfügung gestellt. Referenten aus der Wissenschaft und der Praxis stellen die Themen vor, diskutieren, geben Impulse für pädagogisches Handeln und kommen mit den Teilnehmenden ins Gespräch.